Zu reissenden Bestien erzogen

SS-Hundezwinger im KZ Buchenwald
SS-Hundezwinger im KZ Buchenwald
Als ich ein Junge war, wurde bei uns in der Konradstraße noch Polterabend gefeiert. Am Abend vor der Hochzeit rotteten sich Nachbarn und Freunde vor dem Haus der Braut zusammen und warfen Flaschen vor die Tür. Scherben bringen Glück. Mein Großonkel Willi, dem die Kneipe in unserer Straße gehörte, stellte schon Monate vorher die leeren Schnapsflaschen und Steinhäger-Kruken beiseite. Da kam einiges zusammen.
Der lustigste Polterabend, an den ich mich erinnere, fand 1958 an einem warmen Sommerabend statt. Keinhörsters Evi aus dem Nachbarhaus sollte am nächsten Tag heiraten. Wir Kinder ließen eine Menge Flaschen an der Hauswand zerschellen, die Alten sangen und lachten. Brautvater August kam immer wieder mit einem Tablett voller Schnäpse vor die Tür: Klaren für die Kerle und selbst aufgesetzten Beerenlikör für die Frauen.
Auf seinen ersten Höhepunkt steuerte der Polterabend zu, als Nachbar Konrad auf vielfachen Wunsch sein Lieblingslied zum Besten gab: „Der Pfannenflicker“ war wie geschaffen für diesen Anlass.

„Der Pfannenflicker, er zieht hinaus
und ruft sein flick, flick, flick, von Haus zu Haus.
Und als er kam vor´s Basler Tor.
Eine Jungfrau steht davor.
Sie zeigte ihm ein Pfännelein,
das Löchlein war so klein.
O Pfanneflick, flick, flick, komm nur herein,
es wird schon bei der Nacht was zu flicken sein.“
Lene, die Gärtnersfrau vom Ende der Konradstraße, hatte ihr Waschbrett mitgebracht und begleitete sich darauf zu Stimmungsliedern aus ihrer rheinischen Heimat. Handgemacht und mundgesungen war die Musik damals. Einen DJ, der die Gäste mit Konserven beschallte, gab es noch nicht.
Als alle Flaschen zerschlagen waren, erinnerte sich Lene an die Gläser mit eingewecktem Ziegenfleisch, die schon ein paar Jahre in ihrem Keller verstaubten. Ihr Gatte Alfons hatte sich nach dem Öffnen des ersten Glases standhaft geweigert, dem Fleisch der an Altersschwäche verschiedenen Bergmannskuh zuzusprechen. Keinhörsters Polterabend bot Gelegenheit, die anrüchige Ziege zu entsorgen. Lene ging mit uns Kindern in ihren Keller, wir luden die Batterie Weckgläser in Spankörbe, trugen sie zum Haus der Braut und bombardierten damit die Treppenstufen. Es dauerte ein wenig, bis sich das Aroma des Ziegenfleischs verflüchtigte, genauer gesagt: zwei Wochen. Dabei hatten die Keinhörsters die Überreste des Polterabends schon am nächsten Morgen beseitigt.
August Keinhörster war ein netter Nachbar, von Beruf Lokomotivführer, damals ein Traumberuf für Knaben. Er fuhr die Werkbahn des Stahlwerks „Bochumer Verein“, die auch an Eppendorf vorbeizuckelte. Einmal begegneten wir Kinder ihm an den Gleisen. Keinhörster hielt seine Lokomotive an und nahm uns und unsere Fahrräder ein Stück mit: eine schöne Kindheitserinnerung.
Viele Jahre später, die Keinhörsters waren längst in die Bochumer Innenstadt gezogen, sprach ich mit meiner Mutter über die Nazi-Zeit in Eppendorf. Beiläufig erwähnte sie, dass August Keinhörster „bei Hitler im Lager“ gewesen sei. Ich horchte auf. Sollte es tatsächlich in der Konradstraße einen KZ-Häftling gegeben haben? Ich fragte nach. „Ja“, sagte meine Mutter, „der August hatte seinen Schäferhund dabei.“
Heute erinnert mich der Satz an den makabren Witz von dem Mann, der erzählte, sein Vater sei im Konzentrationslager umgekommen. Und auf Nachfrage: „Er ist besoffen vom Wachturm gefallen.“
Weil meine Mutter nicht mehr über Keinhörsters Lagereinsatz wusste (oder erzählen wollte), bin ich der Sache damals nicht nachgegangen. Erst nachdem ich meinen Bericht über das „Zigeunerlager“ in Eppendorf veröffentlicht hatte, tauchte der Name August Keinhörster wieder auf: Ein alter Nachbar schickte mir einen Brief, den der Lokomotivführer 1942 seinem Vater geschrieben hatte. Der Umschlag ist vergilbt und an den Kanten zerfleddert, der Poststempel aber noch gut zu lesen: „SS-Feldpost“ steht darauf, ein Adler mit Hakenkreuz in den Klauen und „SS-Totenkopfsturmbann Buchenwald.“
Buchenwald, das Konzentrationslager bei Weimar: 266.000 Menschen aus ganz Europa waren hier über die Jahre inhaftiert, die Zahl der Todesopfer wird auf 56.000 geschätzt. Neben Auschwitz gilt Buchenwald als Synonym für die nationalsozialistischen Verbrechen. Dort hatte August Keinhörster, unser netter Nachbar aus der Konradstraße, Dienst getan. „SS-Strm. Keinhörster, 2/SS T. Stuba Weimar-Buchenwald“ steht als Absender hinten auf dem Briefumschlag. Keinhörster war SS-Sturmmann im Zweiten Totenkopf-Sturmbann des Konzentrationslagers.
Und was schrieb der SS-Mann am 11. Dezember 1942 seinem Nachbarn? Er bedankte sich für die Fresspakete, die der ihm geschickt hatte. „Trotzdem die Verpflegung hier soweit ganz gut ist, hat man hier doch immer wieder Hunger. Das ist auch wohl darum, weil wir hier in 800 m Höhe liegen.“ Tatsächlich ist der Ettersberg, an dessen Hang das KZ lag, nur 481 Meter hoch, aber Hunger hatte Keinhörster trotzdem. „Die reine Luft, das macht schon Appetit.“
Während Keinhörster den Inhalt seiner Fresspakete verschmauste, hungerten die KZ-Häftlinge. „Ihre Nahrung besteht aus Brot und Suppe“, heißt es im Begleitband zur Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald. „Wie viel der Einzelne zu essen bekommt, bestimmt die SS…Essensentzug gehört zu den schwersten Lagerstrafen. Gezielt setzt die SS auf Hunger, um die Konkurrenz unter den Häftlingen zu schüren und das Lager zu beherrschen. Mangelkrankheiten und Tuberkulose, unter der Tausende leiden, breiten sich aus.“
Soweit zum Thema Appetit.
„Wie Du sicher von meiner Frau erfahren hast, bin ich hier in einem K. L. zur Bewachung“, schrieb August Keinhörster weiter. „Der Dienst ist hier soweit zu ertragen, besser als wie im Osten.“ Dass Keinhörster den Dienst als Bewacher eines Konzentrationslagers (K. L.) „besser als wie im Osten“ fand, verdankt sich wohl der Tatsache, dass von den wehrlosen Häftlingen, unter ihnen viele sowjetische Kriegsgefangene, keine Gefahr ausging. Während ihre Kameraden von der Roten Armee zum Zurückschießen neigten, waren die KZ-Häftlinge der Willkür ihrer Bewacher wehrlos ausgeliefert. Den SS-Arzt, der sich an die Ostfront versetzen ließ, weil er nicht Lagerarzt in einem KZ sein wollte, hätte August Keinhörster vermutlich für verrückt erklärt. Er fürchtete eine Verlegung gen Osten. „Wie ich hörte, sollen wir mit den Hunden zum Schwarzen Meer“, schrieb er seinem Nachbarn besorgt.
MIT DEN HUNDEN! August Keinhörster gehörte also zur „Hundestaffel“ der SS. Meine Mutter hat Recht gehabt: Der nette Mann aus dem Nachbarhaus „war bei Hitler im Lager“ gewesen - und er hatte einen Hund dabeigehabt.
Die Diensthunde der SS waren einer der Schrecken der Konzentrationslager. SS-Reichsführer Heinrich Himmler machte sich persönlich für ihren Einsatz stark. Sie „müssen zu derartig reißenden Bestien erzogen werden, so wie es die Hetzhunde in Afrika sind“, fordert er. „Sie müssen so abgerichtet sein, dass sie mit Ausnahme ihres Wärters jeden anderen zerreißen.“
Im „Buchenwald-Report“, den eine Gruppe von Häftlingen um Eugen Kogon gleich nach der Befreiung des Lagers schrieb, kommen die Köter auch vor: „Die auf Menschen in gestreifter Kleidung besonders dressierten Blut-und Wolfshunde, die außerhalb der Postenkette (z. B. beim Eisenbahnbau und dergleichen mehr) eingesetzt wurden, haben viel Unheil angerichtet.“
Rolf Abrahamsohn, ein Jude aus Marl, erinnerte sich auch als alter Mann noch an eine Hundeattacke: „Als ich in Buchenwald im Steinbruch arbeitete, nachdem wir aus Bochum gekommen waren, hetzte man auf einen Häftling – ich weiß nicht, ob es ein Jude war oder ein Christ, das interessiert mich auch nicht - einen Hund. Und ich warf mich dazwischen. Der Hund hat auch mich gebissen, aber ich konnte den Mann wenigstens retten.“
Die Hundeführer in den Konzentrationslagern genossen eine Sonderstellung unter den Bewachern. „Ein Haufen für sich“ seien sie gewesen, sagte ein SS-Hundeführer in einem Nachkriegsprozess aus. Sie waren dem Führer des Totenkopfsturmbannes direkt unterstellt und durften zu keinen anderen Diensten herangezogen werden, um die Hunde bei Fluchtversuchen schnell einsetzen zu können. „Flieht der Täter, greift er den Hund an oder macht er auch nur Abwehrbewegungen, so soll der Hund rücksichtslos beißen“, heißt es in einem Schreiben der SS-Führung an die KZ-Kommandanten.
Manchen SS-Männern genügte das nicht. „Aus Langeweile, um einen Spaß zu haben, hetzten sie auch die Hunde auf die Häftlinge“, schrieb Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß in seiner Lebensbeichte. „Wurden sie dabei erwischt, dann war eben der Hund auf sich auffällig benehmende Häftlinge von selbst losgegangen.“ Bestraft wurden solche Lustmörder nicht. Nur wenn sie ihre Tiere misshandelten oder vernachlässigten, wurden SS-Hundeführer abgelöst, schrieb Höß.
Es gibt zahllose Berichte über die Qualen der Häftlinge, auf die SS-Männer ihre Hunde zum Vergnügen hetzten. Doch auch der „normale“ Hundeeinsatz führte dazu, dass viele Fluchtversuche scheiterten und die Flüchtlinge anschließend ermordet wurden. Das allgegenwärtige Bellen der Hunde am Lagerzaun machte jedem KZ-Insassen deutlich, dass er sich im Herz der Finsternis befand, aus dem es kein Entkommen gab.
„Man darf die sadistische Note im Bild des Lagers nicht übersehen, verkleinern oder verwischen: aber man muss sie richtig einschätzen“, schrieb der Buchenwald-Häftling Benedikt Kautzky. „Nichts wäre falscher als zu glauben, die SS wäre eine Horde von Sadisten, die aus eigenem Antrieb, aus Leidenschaft und Gier nach Lustbefriedigung Tausende von Menschen gequält und misshandelt haben. Die Einzelnen, die so handelten, waren durchaus in der Minderheit; ihr Bild prägt sich nur deutlicher ein, weil es schärfer profiliert ist als das des farblosen Rohlings, der sein Pensum an Brutalitäten vorschriftsmäßig, sozusagen bürokratisch erledigt, ohne je seine Mittagspause zu versäumen. Dieser zweite Typ war der überaus häufigere; auf ihn baute sich das satanisch ausgeklügelte System auf.“
Zu welcher Gruppe gehörte unser Nachbar? War Keinhörster ein Sadist mit Totenkopf am Uniformkragen oder ein „farbloser Rohling“, der seine Brutalitäten „vorschriftsmäßig“ erledigte und sich nach getaner Arbeit dem Inhalt seiner Fresspakete widmete? Und wie war August Keinhörster, der im Wattenscheider Einwohnerbuch 1930 noch als „Lok-Führer“ geführt wurde, überhaupt zum SS-Totenkopfsturmbann Buchenwald gekommen?
Im Februar 1936 war Keinhörster mit Frau und Tochter in der Konradstraße 19 eingezogen. In der Meldekarte des Hauses, die der Eigentümer zu führen hatte, ist in der Spalte „Stand“ der Beruf der Bewohner eingetragen: „Pol. Beamter“ steht hinter Keinhörsters Namen. Das kann nur Polizeibeamter heißen. War aus dem Lokomotivführer ein Polizeibeamter geworden?
Das Landesarchiv Duisburg liegt nah am Wasser. Am Montagmorgen nach der großen Flut habe ich dort einen Platz im Lesesaal gebucht. Zum Glück ist der Duisburger Hafen von der Überschwemmung verschont geblieben. Ich komme trockenen Fußes an meinen Platz und eine freundliche Frau gibt mir alles, was sie zu August Keinhörster gefunden haben: ein einziges Blatt. Es ist ein Personalbogen der Polizei.
Viel steht nicht auf dem Vordruck aus der Nazi-Zeit: Am 9. Juni 1941 ist Keinhörster in die Schutzpolizei eingetreten und danach jährlich zum 1. Juli befördert worden. 1942: Oberwachtmeister, 1943: Revieroberwachtmeister, 1944 Hauptwachtmeister. Doch wie passt das zu seinem Brief vom Dezember 1942 aus dem KZ Buchenwald, in dem er sich „SS-Sturmmann“ nannte und nicht „Oberwachtmeister“? Erst als ich mir die Fotos, die ich im Landesarchiv von seinem Personalbogen machte, zu Hause in Ruhe anschaue, fallen mir die drei Buchstaben auf, die von Hand mit Rotstift neben seinem Namen geschrieben stehen: ein großes W und die beiden Sieg-Runen der SS. Waffen-SS! August Keinhörster war – wie manche seiner Kollegen – von der Polizei zur Waffen-SS in den KZ-Wachdienst gewechselt. Gut möglich, dass sein Hund dabei eine Rolle spielte. Im Juni 1942 schrieb der Leiter des SS-Hauptamtes an alle KZ-Kommandanten: „Um in absehbarer Zeit Wachtposten einzusparen, ordne ich mit sofortiger Wirkung an, dass für die Konzentrationslager Diensthunde in größerer Anzahl beschafft und ausgebildet werden.“
Und noch ein zweiter Eintrag in Keinhörsters Personalbogen fällt mir auf: „Okt. 44 z.Zt. Oranienburg b. Berlin, Viktoriastr. 7a“. Knappe zwei Jahre nachdem er den Brief aus Buchenwald geschrieben hatte, hielt sich der SS-Mann in Oranienburg auf. Was er dort zu tun gehabt haben könnte, ist nicht schwer zu erraten: In Oranienburg lag nicht nur das KZ Sachsenhausen, sondern auch die „Inspektion“ aller deutschen Konzentrationslager mit der „Lehr- und Versuchsabteilung für das Diensthundewesen der Waffen-SS“. 1942 wurden in Oranienburg siebzehn Baracken gebaut, mit Zwingern für zweihundert Hunde, die zur Bewachung und Verfolgung fliehender KZ-Häftlinge abgerichtet wurden. „Die Anlage beim KZ Sachsenhausen bot den Vorteil, dass dort die Ausbildung direkt an einem der künftigen Einsatzorte stattfinden konnte“, schreibt Hermann Kaienburg in seinem Standardwerk über den SS-Komplex Sachsenhausen (allzu) nüchtern. Was die „Ausbildung“ der Hunde am lebenden Objekt für die KZ-Insassen bedeutete, kann man sich unschwer vorstellen.
Natürlich mussten Häftlinge die Zwingeranlage für ihre Peiniger bauen. Für die Reinigung der Zwinger durften sie jedoch nicht eingesetzt werden. Die SS-Hunde sollten sich nicht an die Gefangenen gewöhnen. Schließlich hatte man die Tiere mühsam auf sie scharf gemacht. Doch weil sich viele SS-Männer zu fein waren, die Kötel ihrer Köter wegzumachen, wurde gegen das Verbot ständig verstoßen. Manche Häftlinge nutzten die Gelegenheit und stahlen Hundefutter, um ihren Hunger zu stillen.
Ob August Keinhörster tatsächlich im SS-Komplex Oranienburg eingesetzt war, habe ich nicht herausbekommen. „Fast alle Akten der Kommandantur des KZ Sachsenhausen sind im Frühjahr 1945 noch vor der Befreiung des KZ vernichtet worden“, schrieb mir die Leiterin des Archivs der Gedenkstätte Sachsenhausen.
Es gibt noch eine Spur, die in ein anderes KZ führt: ins Vernichtungslager Auschwitz! Am 15. Oktober 2021 schrieb mir Michael Löffelsender von der Gedenkstätte Buchenwald, dass es sich bei der in Keinhörsters Brief „angedeuteten Versetzung der Einheit ans Schwarze Meer um die Versetzung der Hundestaffel in das KZ Auschwitz“ gehandelt haben könne. „Denn Ende 1942/Anfang 1943 wurde eine Gruppe SS-Angehöriger um Hans Merbach zur Bildung einer Hundestaffel aus Buchenwald nach Auschwitz versetzt. Namentlich bekannt ist uns aus diesem Kontext bisher lediglich Hans Merbach. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch August Keinhörster von dieser Versetzung betroffen war.“ In den – nicht vollständigen – Listen der der SS-Leute aus Auschwitz fehlt der Name des Eppendorfer SS-Mann allerdings.
„Fehlanzeige“ auch beim Bundesarchiv in Berlin und Koblenz. Im Landesarchiv Duisburg, wo die Entnazifizierungsakten aus Nordrhein-Westfalen aufbewahrt werden, finden sich außer Keinhörsters Polizeipersonalbogen keine Unterlagen. Der SS-Sturmmann scheint es geschafft zu haben, nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, dem er als KZ-Wächter gedient hatte, klammheimlich zu Frau und Kind in die Konradstraße zurückzukehren und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Keine spektakuläre Flucht über den „Rattenpfad“ nach Südamerika, kein Leben unter falschem Namen irgendwo in Deutschland. Im ersten Nachkriegsadressbuch der Stadt Wattenscheid von 1951 taucht der Hundeführer wieder auf: „Keinhörster, August, Lok-Führer, Konradstr. 19“. Er war in seinen alten Job als Werkbahnführer beim Bochumer Verein zurückgekehrt.
Die Keinhörsters waren streng katholisch. Als sie 1966 nach dreißig Jahren aus Eppendorf in die Bochumer Innenstadt zogen, übernahm der ehemalige KZ-Wächter das Amt des Sakristans der St.Marienkirche, die heute als Foyer des Musikforums dient. Sogar in den Kirchenvorstand wurde Küster Keinhörster als Ersatzmitglied berufen. Ob die Kirchengemeinde seine Vergangenheit kannte, vermag ich nicht zu sagen. Bei uns in der Straße wussten viele, was Nachbar August in der ersten Hälfte der Vierzigerjahre getrieben hatte: Meine Mutter erzählte mir von seinem Aufenthalt samt Hund „im Lager“; der Wohnungsnachbar, dem Keinhörster den Brief aus Buchenwald geschrieben hatte, bewahrte die Feldpost jahrzehntelang auf. Auch seine Witwe und seine Kinder vernichteten sie nicht. Man war sich der Bedeutung des Beweisstücks offenbar bewusst.
Schon 1947 hatte vor einem US-Militärgericht in Dachau der „Buchenwald-Prozess“ stattgefunden. Er endete mit 22 Todesurteilen. Insgesamt wurden vor deutschen und alliierten Gerichten 95 SS-Leute wegen Verbrechen in Buchenwald angeklagt und 79 verurteilt. August Keinhörster war nicht darunter. Michael Löffelsender von der Gedenkstätte Buchenwald schrieb mir, „dass A. Keinhörster – zumindest in der Bundesrepublik – nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Er wurde – Stand heute (14. 10. 2021 d. Verfasser) – nicht durch ein Strafgericht verurteilt und es scheint auch keine Ermittlungen gegen ihn gegeben zu haben.“
Wie die überwältigende Mehrheit der insgesamt 9000 in Buchenwald eingesetzten SS-Leute brauchte unser Nachbar sich nie dafür zu verantworten. Niemand, der von seinem Einsatz im KZ wusste, zeigte ihn an.
Das große Beschweigen der NS-Vergangenheit, das Ende der Vierzigerjahre in Deutschland einsetzte und in zwei vom Bundestag fast einstimmig beschlossenen Straffreiheitsgesetzen gipfelte, herrschte auch bei uns in der Konradstraße. Dafür gab es neben der allgemeinen „Schlussstrich-Mentalität“ einen besonderen Grund: Viele Eppendorfer hatten während des Krieges beim Bochumer Verein gearbeitet und 1944 war bei dem Rüstungsbetrieb ein Außenlager des KZs Buchenwald eingerichtet worden. Die Häftlinge wurden als Zwangsarbeiter im Pressbau und der Geschossdreherei eingesetzt. Rolf Abrahamson, der in einigen Lagern gelitten hatte, hielt das Bochumer für „eines der schlimmsten KZs.“ Im Urteil des Buchenwald-Hauptprozesses heißt es über das Bochumer Subcamp: „Die Arbeitsbedingungen glichen denen der schlimmsten Vernichtungslager des Ostens.“
Ingrid Wölk, die ehemalige Leiterin des Bochumer Stadtarchivs, schrieb: „Im KZ-Außenlager ‚Bochumer Verein‘ kamen zahlreiche Häftlinge zu Tode. Sie starben aufgrund von Misshandlungen, sie starben an Überarbeitung, aus Hunger und Erschöpfung und sie starben durch gezielte Hinrichtungen.“ Manche Erschießungen nahm der Kommandant des Außenlagers persönlich vor. Hermann Großmann war von 1939 bis 1943 Kompanieführer eines Wachbataillons in Buchenwald gewesen. Im Bochumer Außenlager war er meist mit seinem beißwütigen Schäferhund unterwegs. Alles spricht dafür, dass die Hundeführer Großmann und Keinhörster sich kannten. Im Buchenwald-Prozess wurde Großmann 1947 zum Tode verurteilt und gehenkt.
Der Lagerkommandant war nicht der Einzige, der die Arbeitssklaven beim „Bochumer Verein“ misshandelte. Rolf Abrahamsohn erinnert sich an Quälereien durch Arbeiter der Munitionsfabrik: „Sie zögerten nicht, jemandem mit einer heißen Stange auf die Hand zu hauen. Sie haben uns so schikaniert, dass wir kaum aufgucken konnten.“ Sein Urteil: „Die deutschen Arbeiter, die dort eingesetzt waren, um auf uns aufzupassen, waren Schweine.“
Einer der Eppendorfer, die während des Krieges im Geschossbau des Bochumer Vereins gearbeitet haben, war mein Vater. Als Lehrling war er mit dem Arm in eine Drehbank geraten und konnte seitdem die rechte Hand nicht mehr aufrichten. Seine „Fallhand“ machte ihn untauglich für die Wehrmacht. Was er beim Bochumer Verein mit den Häftlingen des Außenlagers zu tun hatte, weiß ich nicht. Über die NS-Zeit hat mein Vater nie mit mir geredet. Ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Für mich war er ein einfacher Arbeiter auf dem BV. Vom Außenlager des KZs Buchenwald an der Brüllstraße wusste ich damals noch nichts, von August Keinhörsters Vergangenheit als KZ-Wächter auch nicht. Als ich davon erfuhr, war mein Vater schon tot. Er ist nur 67 Jahre alt geworden.
August Keinhörster lebte viel länger: Er starb mit 86 Jahren am 23. März 1993 in Witten.
Foto:
Zwingeranlage der SS-Hundestaffel im Konzentrationslager Buchenwald


Quellen:
Brief aus Buchenwald, August Keinhörster, im Besitz des Autors
Personalbogen der Schutzpolizei, August Keinhörster, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Duisburg, HSA-PE 8968
Pfarrchronik St.Marien, Bochum-Mitte, 1972
„…müssen zu reißenden Bestien erzogen werden“ - Der Einsatz von Hunden in den Konzentrationslagern, Bertrand Perz in Dachauer Hefte 12
Der Buchenwald-Report, Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, Hg. David A. Hackett, Verlag C.H.Beck

Buchenwald – Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945 - Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte, Volkhard Knigge u. a., Wallstein Verlag

Das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim „Bochumer Verein“, Ingrid Wölk in: Ein Bochumer Konzentrationslager – Geschichte des Buchenwald-Außenlagers des Bochumer Vereins, VVN-BdA Bochum, Verlag Ruhr-Echo
„Was machen wir, wenn der Krieg zu Ende ist?“, Rolf Abrahamsohn, Klartext-Verlag
Der Militär- und Wirtschaftskomplex der SS im KZ-Standort Sachsenhausen-Oranienburg, Hermann Kaienburg, Metropol-Verlag
United States of America v. Josias Prince zu Waldeck et al. – Case 000-50-9. Review and Recommendations of the Deputy Judge Advocate for War Crimes, Deputy Judge Advocate’s Office 7708 War Crimes Group European Command APO 407. (Urteil im Buchenwald-Hauptprozess, November 1947)
Online zuletzt aufgerufen am 8. 12. 2021 https://www.online.uni-marburg.de/icwc/dachau/000-050-0009.pdf

Vergangenheitspolitik – Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, Norbert Frei, Verlag C.H.Beck

Plötzlich waren alle weg

Eine alte Nachbarin gab den entscheidenden Hinweis. „In Eppendorf war ja auch ein Zigeunerlager und plötzlich waren alle weg.“ Von einem Lager in seinem beschaulichen Stadtteil hatte ich noch nie gehört. Er machte sich auf die Suche, fand heraus, wo das Lager stand, wie die Eppendorfer darauf reagierten und warum die Sinti „plötzlich alle weg waren“.
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Das Buch, das nicht erscheinen sollte

„Auf der Skala der verachtenswertesten menschlichen Kreaturen rangiert er irgendwo zwischen Drogenhändler und Nazi“, schrieb Spiegel-Online vor einiger Zeit über das Image des Großwildjägers. Auf der Suche nach einem Verlag für seinen Safari-Krimi merkte ich, dass das nicht besonders übertrieben ist.
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