Zehn Hiebe auf den Hintern oder Stolperstein für einen Nazi

Lehrer Tromm mit einer Schulklasse 1952.
Lehrer Tromm mit einer Schulklasse 1952.
Ich starrte aus dem Fenster und staunte. Schnee schwebte vom Himmel wie im Märchen von Frau Holle, das ich schon selbst lesen konnte. Fette Flocken schichteten sich auf dem Schulhof. Es war der erste Schnee eines Jahres Mitte der Fünfziger. Welches genau, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich raus wollte, raus in den Schnee. Mit den anderen Jungen Schneeballschlachten schlagen. Die Schicksen waschen. So nannten wir es, wenn wir die Mädchen aus unserer Klasse einfingen und den zappelnden, kreischenden Wesen das Gesicht mit Schnee einrieben.

Als endlich die Schelle zur Großen Pause rief, hielt mich nichts mehr. Ich riss meine Jacke vom Haken, schlüpfte rennend in die Ärmel, hastete die Schultreppe hinunter und griff mit bloßen Händen in den pappigen Schnee. Wunderbare Wurfgeschosse ließen sich daraus machen. Sie waren weich und taten nicht weh, wenn man getroffen wurde. Ich wurde oft getroffen und verfehlte selbst meist das Ziel. Ein großer Sportler war ich noch nie.

Ich erinnere nicht, ob ich in jener Großen Pause Schicksen gewaschen habe. Inge auf keinen Fall. Das kleine Mädchen mit den hochgesteckten blonden Haaren hatte etwas Unnahbares. Sie zu fangen und zu waschen habe ich mich nie getraut, obwohl in jenen Wintern oft Schnee lag. Inge war eine Eisprinzessin. Sie taute nie auf.

Nach einer Viertelstunde voller Vergnügen schrillte die Schelle. Das Läuten ging in unserem Geschrei unter. Oder wir kümmerten uns nicht darum, tobten weiter im Schnee und merkten nicht, dass der Konrektor oben auf der Treppe Aufsicht führte. Der Mann hieß Karl Tromm, war steinalt, ungefähr Mitte fünfzig. Er war schon Lehrer an der Eppendorfer Volksschule gewesen, als sie noch Bismarck hieß und nicht Luther. Deshalb hieß er bei uns Olle Tromm. Er stand im Ruf, streng zu sein.

Nach und nach drängten viele zurück in die Schule. Die Mädchen natürlich vorneweg. Wir Jungen fanden sie blöd, weil sie dazu neigten, sich bei den Lehrern liebkind zu machen. Unter uns genossen die Aufsässigsten das größte Ansehen.
Widerwillig stürmten die letzten Schneemänner die Schultreppe hoch. Vorbei an Olle Tromm, der uns grimmig musterte. Man sah uns an, dass wir im Schnee getobt hatten, besonders mir, weil ich so viele Schneebälle abbekommen hatte. Als ich mich an Tromm vorbeimogeln wollte, packte mich der Konrektor am Kragen.

„Mach sofort den Schnee von deiner Jacke“, bellte er. „Und dann kommst du anschließend zu mir in die achten Klasse.“ Ich klopfte den Schnee ab und trottete in die Schule. Meiner Lehrerin – War es noch Frau Komorowski oder schon Frollein Heising? – sagte ich, dass ich zu Tromm in die achte Klasse müsse.
„Warum?“ Ich druckste. „Wegen Schnee an der Jacke.“ Sie sagte nichts und ließ mich gehen.

Die achte Klasse saß unterm Dach. Ich stapfte die Treppenstufen hoch. Es roch nach Bohnerwachs. Was Olle Tromm mit mir vorhatte, wusste ich nicht. Dass es nichts Gutes war, ahnte ich. Ich hatte Schiss. Zaghaft klopfte ich an die Klassentür. Nichts geschah. Ich hörte den Lehrer hinter der Tür reden. Ich klopfte noch mal, etwas fester diesmal. Schritte kamen auf die Tür zu. Sie ging auf. Tromm befahl mich herein. Ich stellte mich neben das Lehrerpult und schaute in die Gesichter der Achtklässler. Sie waren doppelt so alt wie ich, wussten, was kam, und feixten.

Ob der gestrenge Konrektor etwas zu meiner Missetat sagte, weiß ich nicht mehr. Nur an sein Urteil erinnere ich mich. Zehn Schläge mit dem Rohrstock. Den hielt er für solche Gelegenheiten griffbereit. Ich musste meinen Hintern raustrecken. Dann zog mir Olle Tromm zehn mit dem Stock über. Keinen mehr und keinen weniger. Er zählte laut mit.

Ich starrte auf den Fußboden, versuchte, nicht zu weinen, schaffte es aber nicht. Schniefend ertrug ich die Schläge. Zuckte zusammen, wenn sie mich trafen. Ein heulendes Häufchen Elend von sieben, acht Jahren.

Zu Hause habe ich die Züchtigung verschwiegen. Ich war mir nicht sicher, worüber sich meine Eltern mehr ärgern würden: mein unartiges Betragen oder die Hiebe des Lehrers.
Prügelpädagogen waren nichts, worüber man sich damals aufregte. Sie waren weit verbreitet. Anfang der Sechziger Jahre, schon auf dem Gymnasium, verhaute mich mein Mathe-Lehrer. Haamann hieß er. Er hatte mich für nachmittags zum Nachsitzen verdonnert. Ich war nicht erschienen. Am nächsten Morgen wollte Haamann wissen, warum nicht.
„Ich hatte kein Geld für die Busfahrt, Mensch Kär.“ Mensch Kär war bei uns eine ganz normale Form, seinen Unwillen auszudrücken. Kein großes Ding. Ich wusste nicht mal, was dieses Kär bedeutete.

Haarmann machte es mir klar. „Was? Du nennst mich einen Kerl?“, brüllte er, stürzte sich auf mich und hieb mit den Händen auf mich ein, bis seine Wut verraucht war.

Ein wilder Schläger war auch Herbert Nawroth, unser Deutschlehrer am Gymnasium. Wegen seiner roten Haare nannten wir ihn – wie damals üblich - „der Blaue“. Nawroth liebte die Edda. Eine Stelle aus dem nordischen Heldenepos deklamierte er so oft, dass ich sie heute noch auswendig weiß. Besitz stirbt, Sippen sterben, du selbst stirbst wie sie; eins weiß ich, das ewig lebt: der Toten Tatenruhm.

Ein Herzensanliegen war dem Blauen unsere körperliche Ertüchtigung. Immerzu forderte er eine tägliche Turnstunde. Von uns wollte er wissen, welche Sportarten darin betrieben werden sollten. Ein Mitschüler machte einen Vorschlag.
„Kegeln.“ Wir lachten, Nawroth nicht. „Schafsnase, Affe, Drecksack, Dämlack“, schrie er und schlug auf den Witzbold ein. Der Blaue war Fraktionsvorsitzender der Schwarzen im Wattenscheider Stadtrat. Auf dem CDU-Ticket wurde Nawroth später Direktor des Wattenscheider Mädchengymnasiums.
Doch zurück zu Olle Tromm. Erst viele Jahre später, ich war schon ein junger Mann, habe ich meiner Mutter von seinen Hieben auf meinen Hintern erzählt.

„Weiß du, dat der Lehrer Tromm n hohet Tier bei den Nazis war, Heinz-Werner?“, fragte sie mich.
Ich wusste es nicht. Woher auch? Als ich ein Junge war, sprach niemand über die braune Vergangenheit, schon gar nicht über die Nazis vor und hinter der eigenen Haustür. Das mit dem „hohen Tier“ nahm ich nicht ernst. Für meine Mutter war schon der Stromzählerableser der Stadtwerke eine Respektsperson. Heimlich hat sie sich gewünscht, dass auch ihr Mann „was besseres“ gewesen wäre. Mein Vater war Arbeiter beim Bochumer Verein.

1965 verließ ich das Gymnasium mit der Mittleren Reife und heuerte bei der Wattenscheider Stadtverwaltung an. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erzählten dort die älteren Kollegen vom Krieg. Meist waren es lustige Geschichten aus ihrem Soldatenleben. Oder es ging um Leid, das ihnen in der Kriegsgefangenschaft widerfahren war. Nie sprachen sie über deutsche Kriegsverbrechen oder den Holocaust.

Ich erinnere mich noch an einen Wahlkampfauftritt Willy Brandts. 1965 sprach der SPD-Kanzlerkandidat auf den Eingangsstufen unseres neuen Rathauses. Brandt war 1933 ins Exil gegangen und hatte von Skandinavien aus gegen den Faschismus gewirkt. Während seiner Wattenscheider Wahlrede kreisten über dem Rathausplatz zwei Kleinflugzeuge mit Spruchbändern im Schlepp. „Wo war Willy Brandt im Krieg?“, stand auf dem ersten, „In Sicherheit“, auf dem zweiten. Das kam gut an bei den im Lande gebliebenen Mittätern und Mitläufern.

Fünfzehn Jahre habe ich es im Rathaus ausgehalten. Danach bin ich Journalist und Schriftsteller geworden und habe immer wieder über die braune Vergangenheit unseres Landes geschrieben. „Nahtlos braun“, mein erster Kriminalroman handelte davon und viele Berichte im STERN, für den ich achtzehn Jahre arbeitete. Dabei ging es mir immer um beide Seiten: Opfer und Täter.
Heutzutage, da die Tätergeneration tot ist und der Kommunismus besiegt, traut man sich hierzulande, offener mit den Trägern der NS-Diktatur umzugehen. Einige Großunternehmen und das Auswärtige Amt haben ihre Vergangenheit von Historikern erforschen lassen und gaben sich zerknirscht ob der erwartbaren Ergebnisse: Mittäter und Mitläufer allüberall.

Einen regelrechten Boom erlebt die Erforschung der Schicksale jüdischer Deutscher. Mit Stolpersteinen wird an die Opfer des Holocausts erinnert, Leben und Tod vieler ermordeter Juden vor Ort kenntlich gemacht. Heimatforscher und Schulklassen kümmern sich darum. Das ist gut so.

Wenn dabei allerdings von den Verbrechen „der Nazis“ die Rede ist, bekomme ich vor Ärger grüne Pickel. Nicht „die Nazis“ haben Weltkrieg und Holocaust auf dem Gewissen sondern wir Deutschen. Überall in den von uns überfallenen Nachbarländern weiß und sagt man das. Seit zwanzig Jahren, seit der Ausstellung über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, sollte es auch jedem Deutschen klar sein. Ist es aber nicht.

Als ein Dutzend deutsche Fußballspieler im WM-Finale siegte, jubelte die Nation: „Wir sind Weltmeister!“ Als die deutsche Nation sechs Millionen Juden umbrachte, waren das nicht wir sondern die Nazis.

Harald Welzer kam in seiner Studie mit dem schönen Titel „Opa war kein Nazi“ zu erstaunlichen Ergebnissen. In den meisten befragten Familien herrschte die Meinung, dass „die ‚Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war.“

In zwei Dritteln der Familien galten die eigenen Vorfahren entweder als „Helden des alltäglichen Widerstands“ (15 %) oder als „Opfer der NS-Vergangenheit“ (50 %), obwohl die Biographie der Großeltern und selbst die von ihnen erzählten Geschichten das nicht hergaben. Besonders anfällig dafür war die Enkelgeneration. Je mehr sie über die deutsche NS-Vergangenheit wussten, desto schwerer fiel es den Enkeln, sich ihre Großeltern darin vorzustellen. Die tiefe Kluft zwischen „dieser großen Geschichte und meinem kleinen Opa“ war für viele unüberwindlich. „Dass mein Großvater an diesen Dingen beteiligt gewesen sein soll“, sagte ein Enkel, „das übersteigt meine Vorstellungskraft“.

Also wurde die Familienvergangenheit umgedichtet. „Aus Mitläufern werden dabei Widerstandskämpfer, aus aktiven Exekutoren nationalsozialistischer Politik kritische Geister, die schon immer dagegen waren, aus Profiteuren Opfer des Regimes“, resümieren Harald Welzer und seine Mitautorinnen.

Liegt es an diesem Nichtwahrhabenwollen, dass vergleichsweise wenig Interesse an den Menschen besteht, die das Unrechtssystem vor Ort getragen haben? An den kleinen und größeren Nationalsozialisten in der eigenen Gemeinde? An den Nazi-Lehrern der eigenen Schule?
Fünfzig Jahre, nachdem meine Mutter von der NS-Vergangenheit des Prügelpädagogen Karl Tromm gesprochen hatte, bin ich auf die Suche gegangen. Ein „hohes Tier“ hinterlässt Spuren. Man muss sie nur finden.

Im Lesesaal des Bochumer Stadtarchivs ist es still. Ein paar Leute sitzen schweigend an den Tischen und blättern in den Beständen, die das hilfsbereite Personal für sie herausgesucht hat. Ältere Menschen vertiefen sich in die Geschichte ihrer Familie. Ein Laptop mit weißem, angebissenen Apfel bescheint das Gesicht einer Heimatforscherin. Geredet wird wenig, und wenn dann im Flüsterton. Ein Mann bittet um Hilfe beim Entziffern der Sütterlin-Schrift.

Im Archiv gibt es keine Akten über die Wattenscheider NSDAP. Sie wurden wohl von interessierter Seite bei Kriegsende aus dem Verkehr gezogen. Man muss Umwege gehen, um Tromms Spuren zu finden. Erhalten geblieben ist zum Beispiel die Akte „Bericht über die Bismarckschule 1905 bis 1938 Eppendorf“. Ich blätterte sie durch.

Interessant wird es im Jahr 1935. „Die achtklassige Volksschule in Wattenscheid-Eppendorf wurde von mir am 12. , 14. und 15. November 1935 besichtigt“, schrieb der Schulrat ins Protokoll. Vor allem die „nationalpolitische Erziehung“ interessierte ihn. Am Lehrkörper hatte der Schulrat nichts auszusetzen: „Von den Lehrern sind alle Pg. und Amtswalter. Auch die drei Lehrerinnen gehören der Partei an.“ Aus dem Nazi-Jargon ins Deutsche übertragen: Im Herbst 1935 waren alle Lehrerinnen und Lehrer der Bismarck-Schule NSDAP-Mitglieder und Funktionäre. Auch Karl Tromm, der damals die 2. Klasse unter sich hatte.

Da stand es also Schwarz auf vergilbtem Weiß. Meine Mutter hatte recht gehabt. Der Mann, der mich verdroschen hatte, war ein Nazi. Der Schulrat wusste noch mehr über unsere Dorfschule zu berichten: „Alle Schüler über 10 Jahre gehören zur HJ (100 %).“ Die Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend war 1935 noch freiwillig. Dennoch waren alle Schülerinnen und Schüler ab der fünften Klasse in der NSDAP-Nachwuchsorganisation. Kein einziges evangelisches Eppendorfer Elternpaar hatte seinen Nachwuchs von Hitlers Jugend ferngehalten. 1936 wurde direkt neben der Bismarck-Schule eigens ein HJ-Heim gebaut.

Auch meine Mutter ist in Eppendorf zur Volksschule gegangen. 1933 wurde sie nach acht Jahren entlassen. Wann sie dem „Bund Deutscher Mädel“ beigetreten ist, weiß ich nicht. Dass sie bei der weiblichen Hitler-Jugend war, zeigten Fotos in einem verschüttgegangenen Familienalbum. Ich habe sie noch vor Augen: In dunklem Rock, weißer Bluse und schwarzem Halstuch marschierte meine Mutter mit dem BDM durch Eppendorf.
Auch in den folgenden Jahren inspizierte der Schulrat die Bismarck-Schule. „Die nationalpolitische Haltung der Schule insgesamt und ihres Leiters“ fand er „gut“. Während 1937 reichsweit ein Drittel der Lehrer der NSDAP angehörten, waren es bei uns in Eppendorf alle. Außerdem waren alle Lehrer im Nationalsozialistischen Lehrerbund, in der NS-Volkswohlfahrt und im Reichsluftschutzbund aktiv. „Im bisherigen Sinn und Geist weiter zu arbeiten am Aufbau des Dritten Reiches“, war der Weihnachtswunsch des Rektors bei der letzten Konferenz des Jahres 1936. „Mit dem deutschen Gruße ‚Heil Hitler’ schloss der Konferenzleiter die Sitzung.“ So steht es im Protokollbuch der Lehrerkonferenzen der Bismarck-Schule. Vom Bochumer Schulmuseum kommend ist es im Stadtarchiv gelandet.

In der alten Schwarte finden sich eine Menge Hinweise auf den Geist, der in der Eppendorfer Schule herrschte. Mal wünschten sich die Lehrer „das Bildnis unseres verdienstvollen Ministerpräsidenten Göring“ in den Klassenzimmern. Mal wies der Rektor daraufhin, dass „Schulzeugnisse mit politischem Inhalt“ nur vom Kreisleiter der NSDAP angefordert werden dürften. „An Juden wird hinfort an deutschen Schulen kein Unterricht mehr erteilt“, protokollierte man Anfang 1939. Und: „Zu Beginn des Unterrichts wird ein vaterländischer Gruß gesprochen.“

Dass alle Lehrerinnen und Lehrer der Bismarck-Schule „durch soziale und politische Arbeit für das 3. Reich ehrenamtlich beschäftigt“ waren, war zwar erwünscht, störte zuweilen aber den Schulbetrieb. So fehlte Karl Tromm auf einer Lehrerkonferenz kurz vor Weihnachten, weil er „Winterhilfswerk-Pakete an die ärmeren Volksgenossen“ verteilte. „Neben der freudigen Mitarbeit am Aufbau unseres Vaterlandes darf unter keinen Umständen die Arbeit als Lehrer und Erzieher im Hauptberuf leiden,“ ließ der Rektor ins Protokoll schreiben.

Eine Frage beschäftigte den braunen Lehrkörper so sehr, dass er ihr 1937 eine ganze Konferenz widmete. „Was nehmen die Konfirmanden an Kenntnissen aus der Rassenkunde mit ins Leben?“ In einer achten Klasse wurde eine Lehrprobe zum Thema anberaumt. Den Vorzeigeunterricht gab niemand anderes als Karl Tromm.

Besonders trieb ihn dabei „der angeborene Schwach- und Blödsinn“ um. Der galt als Erbkrankheit im Sinne des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. 400.000 Menschen wurden auf Grund dieses Gesetzes zwangssterilisiert. Grundlage der Gewalttaten waren „erbbiologische Bestandsaufnahmen.“ Bei denen wirkten auch die Lehrer der Bismarck-Schule mit. „Zur Unterstützung der erbbiologischen Bestandsaufnahme des deutschen Volkes ist besonderer Wert auf Sorgfalt bei der Auswahl der Hilfsschüler zu legen“, beschlossen sie. Diese Kinder wurden aussortiert, viele von ihnen später unfruchtbar gemacht. Im Herbst 1937 durfte Tromm übrigens eine zweite „Lehrprobe in der Rassenkunde“ halten.
Es gibt im Stadtarchiv zwar keine Akten über die NSDAP in Wattenscheid, aber im örtlichen Adressbuch von 1939 sind alle Nazi-Dienststellen und ihre Leiter eingetragen. Andreas Halwer vom Stadtarchiv wies mich daraufhin. „Karl Tromm wird hier unter NS-Volkswohlfahrt (NSV) aufgeführt“, schrieb er mir. Der Eintrag lautet: „Ortsgruppenamtsleitung Eppendorf, Am Thie 18, Ortsgruppenamtsleiter Karl Tromm, Wattenscheid, In der Rhode 25, Tel. 1732.“

Deshalb also war der Lehrer Tromm für meine Mutter ein „hohes Tier“ gewesen. Wer wie sie ihr ganzes Leben als einfache Hausfrau in Eppendorf verbracht hat, für die war ein Ortsgruppenamtsleiter tatsächlich einer der wichtigen Kerle ihrer kleinen Welt.

Volkswohlfahrt hört sich harmlos an. Winterhilfswerk und Kinderlandverschickung, davon erzählten die Alten mit Glanz in den Augen, als ich noch der kleine Heinz-Werner war. Die „Wohlfahrt“ galt vielen als die gute Seite des bösen Regimes. Da habe man mitmachen können, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Tatsächlich?
Propaganda-Minister Joseph Goebbels, der gern den Schutzherrn der NSV gab, erklärte seinen Parteigenossen ihre Motive: „Wir gehen nicht vom einzelnen Menschen aus. Wir vertreten nicht die Auffassung: Man muss die Hungernden speisen, die Durstigen tränken und die Nackten bekleiden. Das sind für uns keine Motive. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können.“ Volkswohlfahrt als Kriegsvorbereitung.
Im Fokus der NSV standen deshalb nicht die Schwachen sondern der „schaffende, erbbiologisch wertvolle Deutsche“. Was das für die anderen bedeutete, beschrieb ein führender NSV-Funktionär so: „Eine Wohlfahrtspflege, die auf das Wohl des Volkes ausgerichtet ist, wird im Gegensatz hierzu die Minderwertigen in einer ausmerzenden Erbpflege zurückdrängen... Um der Gesunderhaltung unseres Volkes willen muss darum eine nationalsozialistische Volkswohlfahrt eine Befürsorgung Minderwertiger ablehnen bzw. auf ein Mindestmaß einschränken - unter gleichzeitiger Abdrosselung des kranken Erbstroms.“

Ausmerzende Erbpflege. Abdrosselung des kranken Erbstroms. Hinter diesen Wortungetümen verbargen sich Zwangssterilisierung und Mord, Euthanasie an Behinderten und Bettlern, Homosexuellen, Sinti und Roma. Und alle wussten davon. Mein Opa, ein Bergmann, hat sich damals geweigert, seine behinderte Tochter Emmi in eine Anstalt stecken zu lassen. Aus Angst, die Ärzte würden sie dort umbringen. „Und wenn wir sie hier verstecken müssen. Die kommt nicht weg,“ sagte mein Uropa, der seine kleinwüchsige Enkelin wohl sehr gern hatte.

Karl Tromm, der Vormach-Lehrer für Rassenkunde und Spezialist für „angeborenen Schwach- und Blödsinn“, war als Ortsgruppenamtsleiter der NS-Volkswohlfahrt in Eppendorf also der Mann der Wahl. Was er mit den Menschen machte, die nicht bei seiner NSV mittun wollten (falls es solche in Eppendorf gab), ist nicht überliefert. „Wer sich ausschließt, schließt sich damit auch von der Volksgemeinschaft aus“, hieß es in einem Werbeblatt der Volkswohlfahrt. Der Text endete hoffnungsfroh: „Wir sind zuversichtlich, dass wir am 1. Mai 1934 nach Berlin melden können: ‚Unser Führer: Kein Angehöriger unserer Gemeinde steht abseits. Alle sind Kämpfer des Nationalsozialismus. Alle sind Mitglieder der Nat.=Sozial.=Volkswohlfahrt.’
Karl Tromm hat noch andere Spuren hinterlassen. Als Ingrid Wölk, die Leiterin des Bochumer Stadtarchivs, seinen Namen in ihr Programm eingab, zeigte ihr Rechner einen Treffer an. Die Personalakte des Lehrers Tromm lag wohlverwahrt im klimatisierten Magazin des Stadtarchivs. Zwei Tage später hockte ich wieder im Lesesaal und vertiefte mich in die Laufbahn des Mannes, der mich einst verdroschen hatte.

Geboren am 13. Oktober 1899, wurde Karl Tromm im Ersten Weltkrieg mit siebzehn Jahren Soldat. Seine „Kriegsdienstzeit“ endete erst im Februar 1920. Ob er nach dem Kriegsende im November 1918 in Gefangenschaft war oder bei den berüchtigten Freikorps gegen die Republik weiterkämpfte, geht aus seiner Personalakte nicht hervor. Nur dass ihm auf seinen Antrag im März 1935 „im Namen des Führers und Reichskanzlers“ das „Frontkämpferehrenkreuz“ verliehen wurde.

Mit der Ausbildung der Volksschullehrer war es damals nicht weit her. Tromm ging acht Jahre in Dortmund zur Schule, drei Jahre auf die „Präparande“ in Soest und nach dem Krieg noch gut ein Jahr aufs Lehrerseminar. Fertig war der Volksschullehrer. Mit 21 Jahren wurde der Gefreite Tromm auf die Eppendorfer Schülerschaft losgelassen.
Spannend wird es auf Seite 27 seiner Akte. Es ist ein „Personalblatt“, das Karl Tromm 1938 ausfüllte und unterschrieb. Darin wurden Parteimitgliedschaft und Parteiämter abgefragt. „Mitglied der NSDAP seit 1. 5. 1933“, gab Tromm an. Seine Mitgliedsnummer: 3 132 132. Seine Ämter: „Ortsgruppenamtsleiter des Amtes für Volkswohlfahrt seit 11. 7. 1934, Kreisschulungswalter der NSV seit 1938.“ Daneben war Tromm im Nationalsozialistischen Lehrerbund und im Reichsluftschutzbund aktiv.

Interessant ist seine Antwort auf die Frage zur Konfession: „Gottgl. früher evgl.“ Aus der evangelischen Kirche war er also ausgetreten und bezeichnete sich nun als „gottgläubig“. Dieses Bekenntnis galt als „Ausweis besonderer Nähe zum Nationalsozialismus“, stellten Eckart Conze & Co in ihrer Untersuchung über „Deutsche Diplomaten im dritten Reich und in der Bundesrepublik“ fest.

Nach Personalaktenlage war Karl Tromm also ein besonders strammer Nazi - oder ein besonders eifriger Opportunist, der sein Fähnchen in den rechten Wind hängte.

In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre bereitete sich Deutschland auf den Angriffskrieg vor – auch die Bismarck-Schule in Eppendorf. Der Luftschutz, dem Tromm als Lehrgangsleiter diente, wurde geprobt. „Wenn die Landesverteidigung im Ernstfall gegen feindliche Flieger oder ganze Flugzeuggeschwader mit ihren Brand= und Giftgasbomben uns schützt, so haben auch wir nichtsdestoweniger auf der Hut zu sein und für unseren Schutz zu sorgen“, heißt es im Protokoll einer Lehrerkonferenz. Auf Pfiff hatten die Schülerinnen und Schüler auf den Fluren anzutreten und das Gebäude zu verlassen.

Außerdem machten sich die Lehrer Sorgen um Futter und Kanonenfutter: „Damit es nicht an dem nötigen Nachwuchs in der Landwirtschaft, der Luftwaffe und der Unteroffizierslaufbahn fehlt, soll die Schule des Öfteren darauf hinweisen und die Vorzüge dieser Arbeit ins rechte Licht stellen.“ Die Bismarck-Schule wurde wegen der „hohen erziehlichen Bedeutung im vaterländischen Sinne“ in der Kriegsgräberfürsorge aktiv. Der Krieg konnte kommen.
Was die Lehrerinnen und Lehrer während des 2. Weltkrieges bei ihren Konferenzen verhackstückten, ist nicht überliefert. Merkwürdigerweise findet sich im Protokollbuch der Bismarck-Schule für diese Zeit kein einziger Konferenzbericht.

Auch Karl Tromm bereitete sich auf den Krieg vor. 1937 nahm er an einer Wehrübung und einem Lehrgang der Landesgruppenluftschutzschule teil. Vier Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen wurde er zur Wehrmacht eingezogen und zum Unteroffizier befördert, aber schon nach fünf Monaten wieder entlassen. Der Grund geht aus seiner Akte nicht hervor. Er nahm seinen Dienst an der Bismarck-Schule wieder auf. 1940 wurde der Lehrer „bis auf weiteres unabkömmlich“ gestellt. Tromm blieb es bis zum Ende des Krieges.

Sein Eppendorfer Einfamilienhaus mochte er auch nicht mit einem Lager der Kinderlandverschickung in Pommern tauschen. Dorthin wollte ihn der Schulrat 1944 schicken, um evakuierte Wattenscheider Schulkinder zu unterrichten. Durch Beziehungen zur Kreisleitung der NSDAP versuchte Tromm, den Einsatz in Pommern zu vermeiden. Er blieb einfach zu Hause. Erst als ihm der Regierungspräsident für sein „disziplinwidriges Verhalten eine Missbilligung“ aussprach, machte sich Tromm auf die Socken. „Meine jetzige Adresse lautet KLV-Lager, Herrenhaus Rostock-Pürglitz“, meldete er dem Wattenscheider Schulamt. „Heil Hitler, Tromm.“

Die Nachricht vom Kriegsende erreichte den Lehrer auf der Flucht. Das KLV-Lager bei Pilsen, in dem er inzwischen gelandet war, wurde Ende April 1945 evakuiert. Mit den Schulkindern machte sich Tromm auf den Heimweg. Er hat darüber einen Bericht ans Wattenscheider Schulamt verfasst. Betont sachlich beschrieb Tromm die Schwierigkeiten bei der Rückkehr nach Wattenscheid, die er selbstverständlich gemeistert hatte.

Der neue Ton, den er nun anschlug, nutzte ihm nichts. Am 25. Juli 1945 wurde Karl Tromm auf Befehl der englischen Militärregierung als Volkschullehrer entlassen. Als Begründung nannte der Oberbürgermeister Tromms Mitgliedschaften und Ämter in der NSDAP und ihren Nebenorganisationen.

Die Engländer machten Ernst mit der Entnazifizierung. Auf der gleichzeitig tagenden Potsdamer Konferenz beschlossen die Siegermächte: „Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben..., sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern... zu entfernen.“ Besonders aufmerksam sahen sie auf die Schulen. „Das Erziehungswesen in Deutschland muss so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden.“
Damit war Karl Tromm weg vom Fenster. Den Empfang seines Entlassungsschreibens quittierte Tromms Ehefrau. Vermutlich hatten die Engländer ihren Mann zu diesem Zeitpunkt schon ins Internierungslager Recklinghausen-Hillerheide gesteckt. Denn das machte die Besatzungsmacht 1945 mit Karl Tromm und seinesgleichen. Aus Angst vor Partisanenattacken deutscher „Werwölfe“ und um den Einfluss des braunen Gedankenguts einzudämmen, sperrten die Engländer neuntausend hiesige Nazis in ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager.

Wer waren Tromms Mithäftlinge in der Hillerheide? Der Historiker Adolf Vogt zählte sie auf: „Wehrmachtsangehörige und SS-Männer, Uniformierte und Zivilisten, Männer und Frauen, Fünfzehnjährige und (über) Siebzigjährige, Schreibtischtäter fürs Feine und KZ-Personal fürs Grobe, in den Judenmord und andere Kriegsverbrechen verstrickte Kriminelle und harmlose mitlaufende Rädchen des NS-Betriebs, knallharte Karrieristen und verblendete Idealisten, HJ- und BDM-Führer/innen, Angehörige nahezu aller Berufe, insbesondere höhere Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsbosse, Lehrer, Professoren, die höheren (teilweise auch militanten) Führungsebenen der Gliederungen der Partei bzw. der angeschlossenen Verbände wie etwa die  Deutsche Arbeitsfront – und natürlich als Exponenten der Partei selbst viele Angehörige von Gau- und Kreisleitungen  sowie Hunderte von Ortsgruppenleitungen. Ganze Seilschaften müssen sich im Camp wiedergefunden haben“, schrieb Vogt 1997 in seiner Studie über das Internierungslager Recklinghausen-Hillerheide.

Welchem Haufen – außer dem umfangreichen Lehrkörper –Karl Tromm angehörte? Vermutlich tummelte er sich irgendwo zwischen den „knallharten Karrieristen“ und Adolf Vogts „harmlosen mitlaufenden Rädchen des NS-Betriebs“. Ich glaube allerdings, dass der „NS-Betrieb“ ohne all die „harmlosen Rädchen“ nicht wie geschmiert gelaufen wäre.

Tromm war nicht der einzige Eppendorfer, den die Engländer internierten. Das Wattenscheider Polizeirevier 10a listete 1948 zwanzig Männer aus unserem Dorf auf, die inzwischen aus dem Lager entlassen worden waren.
Wie lange Karl Tromm interniert war, ist nicht überliefert. Lange kann es nicht gewesen sein. „Der Lehrer Karl Tromm hat am 16. Juli 1946 seinen Dienst an der Parkschule wieder aufgenommen“, heißt es in seiner Personalakte.
Wie das sein konnte? Lehrer wurden gebraucht, um den Schulbetrieb wieder ans Laufen zu bringen. Wenn man alle belasteten Pädagogen entfernt hätte, wäre kaum Unterricht möglich gewesen. Zur Erinnerung: An der Bismarck-Schule in Eppendorf waren alle Lehrerinnen und Lehrer Mitglieder der NSDAP und Funktionäre ihrer Nebenorganisationen gewesen.

Ganz so einfach kam Karl Tromm allerdings nicht davon. Er musste sich der Entnazifizierung stellen. Diese Verfahren sollten ursprünglich der Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft dienen. Mit der Zeit wurde daraus eher die Entnazifizierung der Nazis.

Akten gibt es darüber natürlich auch. Sie führten „mehr als ein Jahrzehnt ein trauriges Dasein auf Böden und in Kellern“, schrieb Irmgard Lange 1976 in ihrem offiziellen Standardwerk „Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen“. „Niemand kümmerte sich um sie..., kurzum, sie verstaubten, wurden hin und her geräumt und gerieten in Unordnung“. Die Akten füllten 56 Lastkraftwagen, als sie ins Hauptstaatsarchiv Düsseldorf geschafft wurden – was eine Menge über die Menge Deutschen aussagt, die vor den Entnazifizierungsausschüssen landeten. Heute liegen die Akten im Landesarchiv Duisburg.

Es war der kälteste Tag eines kalten Februars, an dem ich beim Landesarchiv am Duisburger Hafen aufschlug. Der Ostwind pfiff durch die Schifferstraße. Böen peitschten das Wasser. An den Stegen festgemachte Boote schaukelten auf den Wellen. Nichts wie rein ins Warme. Durch die großen Fenster des Lesesaals strahlte die Wintersonne aus einem wolkenlosen Himmel. Wärmer wurde mir trotzdem nicht. Der Inhalt der Entnazifizierungsakte Karl Tromm ließ mich frösteln. Das Eppendorf meiner Kindheit, jenes Dorf mit vielen Feldern und ein paar Wäldchen, mit vielen Arbeitern und ein paar Bauern, mit vielen Verwandten und ein paar Freunden, mein Heimatdorf sah ich mit anderen Augen.

Die Entnazifizierungsakte Tromm, Karl beginnt mit dem Fragebogen der Militärregierung. Daraus erfuhr ich etwas mehr über den Menschen Karl Tromm. Blaue Augen und dunkelblondes Haar hatte der Lehrer. Er war nur 1,70 Meter groß und ganze 62 Kilo schwer. Der Riese, der mich auf der Schultreppe gestoppt und im Klassenzimmer gezüchtigt hatte, schrumpfte zu einem kleinen, dünnen Kerl, fast einen Kopf kürzer als ich und dreißig Kilo leichter. Lag seine Lust am Kinderverprügeln vielleicht daran, dass der kleine Tromm, wenn er den Rohrstock schwang, sich wie Karl der Große vorkam?

Nach dem Äußeren ging es im Fragebogen um das Innere. Gefragt war die Religion. Evangelisch sei er, schrieb Tromm, der evangelischen Landeskirche gehöre er an. Nach dem Zusammenbruch seiner braunen Welt war er also flott in der Schoß der Kirche zurückgehüpft. Gefragt nach den Gründen seines Kirchenaustritts acht Jahre vorher, nannte Tromm die „innere Zerrissenheit der evang. Kirche.“ Mit nationalsozialistischer Weltanschauung sollte sein Kirchenaustritt nun nichts mehr zu tun haben. Die Kirche war selbst Schuld, dass ihr der gottgläubige Lehrer von der Fahne gegangen war.

Ansonsten erfuhr ich aus Tromms Fragebogen, dass ihm 1940 die „Medaille für deutsche Volkspflege“ verleihen wurde und er 1942 auch noch förderndes Mitglied beim NSFK geworden war. NSFK? Die Abkürzung sagte mir nichts. Muss man auch erst einmal drauf kommen, dass der Lehrer Tromm sich auch noch dem Nationalsozialistischen Fliegerkorps angeschlossen hatte.

Eines der Ämter, die er 1938 in seinem „Personalblatt“ noch stolz aufgelistet hatte, wollte Tromm allerdings unbedingt loswerden. „Das in meinem Entlassungsschreiben angegebene Amt des Kreisschulungswalters der NSV ist mir zwar angetragen worden,“ behauptete er, „doch ist es zur Übernahme des Amtes nicht gekommen.“

Karl Tromm wusste genau, was er tat, als er seinen Fragebogen ausfüllte. Das zeigen auch seine Antworten auf die Fragen 108 und 109.
„Für welche Partei haben Sie in der Novemberwahl 1932 gestimmt?“
Antwort: „SPD“.
„Und im März 1933?“
Antwort: „SPD“.
Falls Tromm noch am 5. März 1933 die Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt haben sollte, war er ein besonders wendiger Wendehals: Schon acht Wochen später trat er der NSDAP bei. Falls seine Antworten nicht stimmten, war Tromm ein geschickter Lügner. Niemand konnte ihm beweisen, dass er nicht die SPD gewählt hatte. Die Reichstagswahlen waren geheim – und die Fragen 108 und 109 deshalb blöde.

Für wen auch immer er gestimmt haben mag, genützt hat Tromm das Winken mit der SPD-Fahne zunächst genauso wenig wie sein Schreiben an den Wattenscheider Entnazifizierungsausschuss. „Meine Tätigkeit als Ortsgruppenamtsleiter der NSV habe ich ohne Ansehen der Konfession oder der früheren Parteizugehörigkeit gerecht gegen jedermann ausgeübt,“ behauptete er. „Ich habe mir dadurch das Vertrauen der Eppendorfer Bevölkerung bewahrt.“

Die Mitglieder des Ausschusses senkten dennoch den Daumen. Mit sieben zu null Stimmen beschlossen sie: „Nach Anhören war Tromm, Karl Aktivist und Förderer der NSDAP. Seine Entlassung besteht zu Recht. ‚M – Entlassung auf Befehl in eine unverantwortliche Stellung’.“ Im Auftrag Kemper Vorsitzender.
In fünf Kategorien wurden NS-Täter bei der Entnazifizierung eingeteilt: Die „Verbrecher“ und die „Übeltäter“ behielt sich die Militärregierung selbst vor. Für die „weniger bedeutenden Übeltäter“, „Parteigänger“ und „entlasteten Personen“ waren die deutschen Ausschüsse zuständig. Tromm wurde in die Kategorie III eingereiht. Der Lehrer hatte es amtlich: Er war „ein weniger bedeutender Übeltäter“. Nach den Sommerferien brauche er nicht mehr zur Schule kommen, schrieb ihm der Schulrat. Er war entlassen.

Karl Tromm wusste, was er zu tun hatte. Der Rechtsstaat, den seine Partei verhöhnt und abgeschafft hatte, kam ihm nun zu Pass. Er legte Berufung gegen seinen Einreihungsbescheid ein. Weil der dadurch nicht rechtskräftig wurde, durfte Tromm weiter unterrichten. Sogar an seiner alten Schule, die jetzt nicht mehr Bismarck sondern Beethoven hieß.
Damit er bleiben konnte, musste Tromm den braunen Dreck, der an ihm klebte wie ein Ami-Kaugummi, loswerden. Am besten ging das mit „Persilscheinen“. So nannte der Volksmund die Gefälligkeitsbescheinigungen, mit denen NS-Leute sich reinzuwaschen suchten. Am wirksamsten waren Persilscheine, die von unbelasteten Personen stammten.
Tromm setzte ein Schreiben auf, das er den Eppendorfer Parteivorsitzenden, die er „Parteiführer“ nannte, zur Unterschrift vorlegte. Darin heißt es über ihn: „Während seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP und als Amtsleiter der NSV ist er nicht fanatisch hervorgetreten. Gegen seine Weiterbeschäftigung in der Schule bestehen keine Bedenken.“ Und diesen Text unterschrieben der SPD- und der KPD-„Führer“ von Eppendorf! Der CDU-Mann verfasste einen eigenen Schrieb, der wenigstens einen Hauch von Kritik enthielt: „Man hat es in diesen Kreisen bedauert, dass Herr Tromm verhältnismäßig früh in die NSDAP eintrat.“

Eigentlich unglaublich. Da halten die Vertreter der Arbeiterparteien Tromm zugute, dass er „nicht fanatisch hervorgetreten“ sei. Als ob er nur dann als Lehrer ungeeignet gewesen wäre, wenn er mit braunem Schaum vorm Maul durch Eppendorf marschiert wäre. Da bedauert der Christdemokrat nur, dass Tromm „verhältnismäßig früh“ in die NSDAP eingetreten war. Wäre es zwei Jahre später für die CDU okay gewesen?

Tromms Trumpfkarte war eine „Entschließung des Elternrates der evgl. Beethovenschule zu Wattenscheid-Eppendorf“. Mit „Bestürzung“ nahmen sieben Eppendorferinnen und Eppendorfer zur Kenntnis, dass durch Tromms Rausschmiss „eine erneute Störung in Erziehung und Unterricht hervorgerufen wird, die im Interesse unserer Kinder nicht zu verantworten ist.“ Tromm sei „als Mensch und Lehrer geachtet“. Seine „einwandfreie Arbeit als Amtsleiter der NSV“ könne nicht die Grundlage „eines so harten Urteils sein.“ Man wünschte seine Wiedereinstellung in den Schuldienst.

Dass Tromm ihre Kinder verprügelt, sie mit Rassenwahn infiziert und auf den Angriffskrieg gegen ganz Europa vorbereitet hatte, spielte für den Elternrat offensichtlich keine Rolle. Auch zwei Jahre nach Kriegsende hatten sie nichts begriffen. Die Eppendorfer hatten das mörderische Spiel entweder mitgespielt oder ihm tatenlos zugesehen. 37 Prozent hatten bei der letzten halbwegs freien Reichstagswahl im März 1933 im Wahllokal Niggeling für die NSDAP gestimmt. Das war das zweitbeste Ergebnis der Nazis in Wattenscheid. Alle Evangelischen hatten ihre Kinder zur Hitler-Jugend geschickt. Zwanzig Männer aus unserem kleinen Dorf hatte die Militärregierung für so gefährliche Nazis gehalten, dass sie sie im Internierungslager wegsperrte.

Nur einmal habe ich für einen Moment geglaubt, in Eppendorf auf eine Ausnahme gestoßen zu sein, auf den einen Gerechten aus der Bibel, von dem sie uns im Kindergottesdienst vorgeschwärmt hatten. Über einen netten Nachbarn aus der Konradstraße erzählte mir meine Mutter, er sei „bei Hitler im Lager gewesen“. Ich horchte auf. Sollte es in Eppendorf tatsächlich einen KZ-Häftling gegeben haben? Ich fragte nach. „Der August hatte seinen Schäferhund dabei“, antwortete meine Mutter. Mehr musste sie nicht sagen.

Am 9. Oktober 1948 fand Tromms Berufungsverhandlung beim Entnazifizierungsausschuss in Bochum statt. Dass er so lange darauf warten musste, war Tromms Glück. „Im Sommer 1947 aber hatte sich nun auch die öffentliche Meinung gewandelt“, stellte Irmgard Lange in ihrem Buch „Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen“ fest. „Man sah die Entnazifizierung mit anderen Augen und trachtete danach, sie möglichst schnell zu beenden.“

Von dieser Stimmung profitierte auch Karl Tromm. Auf seinen Antrag hörte der Ausschuss als Zeugen seinen neuen Rektor Ernst Fieler. Der Schulleiter wusste Erstaunliches zu berichten. „Ich habe selbst einen Briefwechsel gelesen, der im Schreibtisch verschlossen war, als ich das Amt des Rektors in Eppendorf übernahm,“ erzählte Fieler den Ausschussmitgliedern. „Der Briefwechsel war von dem Vorgänger mit einer Parteistelle geführt. Aus ihm konnte ich ersehen, dass der Antragsteller auch von diesem als politisch nicht zuverlässig in seinen Berichten herausgestellt wurde. Er war dort offenbar das schwarze Schaf.“

Vorgelegt hat Rektor Fieler den entlastenden Briefwechsel im Ausschuss nicht. Ich bezweifele, dass es ihn überhaupt gab. Warum hatte der Rektor ihn sonst nicht viel eher aufgetischt? 1945 zum Beispiel, als Karl Tromm im Internierungslager saß? Oder 1946 vor dem Entnazifizierungsausschuss in Wattenscheid? In den Akten der Bismarck-Schule und in Tromms Personalakte findet sich jedenfalls nicht der zarteste Hinweis auf den von Fieler behaupteten Briefwechsel. Von politischer Unzuverlässigkeit des NSDAP-Mitglieds und Amtsleiters der NS-Volkswohlfahrt Eppendorf ist dort mit keinem Wort die Rede. Es blieb Rektor Fieler vorbehalten, drei Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches aus dem braunen Bock namens Karl Tromm ein schwarzes Schaf zu machen.

Warum nur? Ich habe den Eindruck, dass der Rektor keinen seiner Lehrer verlieren wollte. Schließlich waren alle Pädagogen seiner Schule in der NSDAP gewesen. Nicht nur Karl Tromm. Wenn man es mit der Entnazifizierung Ernst nahm, hätte Fieler seinen Laden dicht machen können. Und der Eppendorfer Elternrat wäre sturzbetroffen gewesen.
Dass Fieler nicht nur Tromm aus der braunen Patsche half, zeigte sich ein paar Jahre später. Da verabschiedete sich das NSDAP-Mitglied Adele Brust aus dem Schuldienst in den Ruhestand. Der Rektor organisierte eine Feierstunde für Frollein Brust und „gab in seiner Abschiedsrede einen Querschnitt durch die lange, segensreiche Tätigkeit der Scheidenden“, berichtete die WAZ.

Der Bochumer Berufungsausschuss kaufte Fieler seine Geschichte jedenfalls ab und stufte Tromm im Entnazifizierungsverfahren von Kategorie III nach IV zurück. Aus einem „weniger bedeutenden Übeltäter“ wurde ein schlichter „Parteigänger“. Stimmenverhältnis 5 : 0 für Tromm. Die fällige Gebühr von 120 D-Mark durfte er in zwei Raten bezahlen.

Karl Tromm konnte damit weiter unterrichten, wurde Beamter auf Lebenszeit und prügelte fröhlich vor sich hin. Ich habe mit einer seiner Schülerinnen gesprochen. Tromm war fünf Jahre lang ihr Lehrer. „Mein Gott, was hat der uns verhauen“, erinnerte sich die alte Eppendorferin. „Die Jungs hat er mit dem Rohrstock auf den Hintern gehauen. Die Mädchen über die Schultern. Die hatten nachher Striemen auf dem Rücken.“

Nur drei Jahre nach seiner Wiedereinstellung bewarb sich Karl Tromm das erste Mal auf eine freie Rektorenstelle in Wattenscheid. Er bekam die Stelle nicht, genauso wenig wie zwei Jahre später eine andere. Immerhin beförderte man ihn 1954 zum Konrektor unserer Luther-Schule. Das war das Jahr, in dem ich eingeschult wurde. Vier Jahre später war Tromm am Ziel. Er wurde zum Leiter der Freiligrath-Schule gewählt. In seinem Bewerbungsschreiben fand die NS-Zeit nicht mehr statt. Die Nachkriegsjahre auch nicht. Niemand fragte nach.

1961 feierte man an der Freiligrath-Schule das vierzigjährige Dienstjubiläum des Rektors Tromm, vier Jahre später verabschiedete man ihn in den wohlverdienten Ruhestand. Den genoss Olle Tromm noch fast dreißig Jahre in seinem Eppendorfer Haus. Er starb 1993.
Quellen:

Erna Schmitz, Mündliche Mitteilungen, ohne Datum

Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main, 2002

Bericht über die Bismarckschule 1905 bis 1938 Eppendorf, Stadtarchiv Bochum (WAT 1061)

Verwaltungsberichte der Stadt Wattenscheid 1933 – 1937, Stadtarchiv Bochum

Konferenz-Protokolle der evang. Bismarckschule in W.=Eppendorf, Stadtarchiv Bochum

Adressbuch der Stadt Wattenscheid 1939, Stadtarchiv Bochum

Saskia Müller/Benjamin Ortmeyer:  Die ideologische Ausrichtung der Lehrkräfte 1933–1945 : Herrenmenschentum, Rassismus und Judenfeindschaft im Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Eine dokumentarische Analyse des Zentralorgans des NSLB. Beltz Juventa, Weinheim 2016

Herwart Vorländer: Die NSV, Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation. Boppard a. Rhein, 1988

Personalakte Tromm, Karl (WAT 4912)

Mitteilung über die Dreimächte-Konferenz von Berlin („Potsdamer Abkommen“), 2. August 1945

Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010

Adolf Vogt: "Werwölfe" hinter Stacheldraht. Das Interniertencamp Recklinghausen-Hillerheide (1945–1948). In: Vestische Zeitschrift Bd. 94–96 (1997)

Entnazifizierung Stadtdirektor Osicki, Lehrer Wollschläger u. a., Stadtarchiv Bochum (WAT 2374)

Entnazifizierungsakten Tromm, Karl, Landesarchiv Duisburg (NW 1037-BVI Nr. 4628, NW 1091-LEHRER Nr. 925, NW 1116 Nr. 1085)

Wattenscheider Zeitung, 6. März 1933, Stadtarchiv Bochum

Renate Wapelhorst: Von der Kirchspielschule in Eppendorf bis zur Schließung der Grundschule Ruhrstraße 30. Bochum, 2017

Zu reissenden Bestien erzogen

Über einen netten Nachbarn erzählte mir meine Mutter einmal, er sei „bei Hitler im Lager gewesen“. Sollte es bei uns in der Straße tatsächlich einen KZ-Häftling gegeben haben? Ich fragte nach. „Der August hatte seinen Schäferhund dabei“, antwortete meine Mutter. Neulich schickte mir jemand einen vergilbten Feldpostbrief dieses Nachbarn. Feldpoststempel: „SS-Totenkopfsturmbann Buchenwald“. WEITERLESEN

Plötzlich waren alle weg

Eine alte Nachbarin gab den entscheidenden Hinweis. „In Eppendorf war ja auch ein Zigeunerlager und plötzlich waren alle weg.“ Von einem Lager in seinem beschaulichen Stadtteil hatte ich noch nie gehört. Er machte sich auf die Suche, fand heraus, wo das Lager stand, wie die Eppendorfer darauf reagierten und warum die Sinti „plötzlich alle weg waren“.
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